Berliner sind keine Autofahrer. Nur jeder Dritte hat ein Auto, während zum Beispiel jeder zweite Münchner einen PKW sein Eigen nennt. Die Tendenz in Berlin ist sogar sinkend: Immer mehr Menschen gehen zu Fuß, fahren Fahrrad oder benutzen öffentliche Verkehrsmittel. Das Auto ist passé, der moderne Mensch verzichtet auf die eiserne Kutsche, die die Umwelt versaut und die Straßen verstopft.
Berlin ist stolz auf diese Entwicklung. Und mit Recht, weil Städte ohne Autos sowohl für die Einwohner als auch für Besucher attraktiver sind. Auf Postkarten sieht man denn auch eher selten Stadtautobahnen und niveaufreie Kreuzungen, stattdessen bekommt man historische Plätze und Pflasterstraßen vorgeführt, dazu Flussufer und Bürgersteige.
Alles schön und gut, aber mal ganz ehrlich: Ein bisschen langweilig wirkt das schon. Die modernen, verkehrsberuhigten Städte gleichen immer mehr ihrer eigenen Vergangenheit, sie wirken wie wohlmöblierte Zimmer, hier und da mit einem gut gewählten modernen Element versehen. Gelegentlich braucht man als Großstädter aber einen Schuss Chaos und eine Nase Auspuffgase. Und gerade weil die Bedrohung durch den wachsendem Autoverkehr und der damit verbundenen Vernichtung der Stadt nachgelassen hat, können wir uns mittlerweile ohne Schuldgefühle und mit Vergnügen ansehen, wie sich frühere Planer die Entwicklung der Stadt vorgestellt haben.
Sie sind nicht davon überzeugt, dass man die Stadtautobahn auch einfach genießen kann? Bedenken Sie, dass Sie zum Beispiel bei einem Besuch in Sankt Petersburg auch nicht ständig die harten Lebensbedingungen von damals und den Gestank von Unmengen auf den Straßen herumliegender Pferdescheiße im Kopf haben. Also, steigen Sie ein, machen Sie den Kopf frei von den Gedanken, denen Sie sonst auf Ihrer Fahrt nachhängen – und staunen Sie über die markante Welt der Stadtautobahn.
Wegen der hohen Spritpreise ist die Tour auf 14 Kilometer beschränkt.
Bitte einsteigen und anschnallen!
Die Stadtautobahn ist eine typische Westberliner Angelegenheit: In der DDR gab es so wenige Autos, dass der Aufwand sich nicht lohnte – und nach dem Mauerfall war der Widerstand der Bürger so groß, dass es den Stadtplanern nicht mehr gelang, neue Stadtautobahnen durchzusetzen.
Starten wir also klassisch an dem Punkt, wo früher die Transitstrecke durch die DDR endete und die Avus – und mit ihr die kapitalistische Welt – begann. Oder vielleicht verlegen wir den Anfang doch ein bisschen weiter stadteinwärts, weil seit Mitte April an der Avus herumgebastelt wird und die Staugefahr deshalb zu groß ist. Ab Zufahrt Hüttenweg, also ungefähr halbwegs, kann man aber noch ohne Probleme starten.
Die Avus ist die älteste "Nur-Kraftwagenstraße" der Welt. Keine Sorge: die "Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße", so der volle Name, hatte nichts mit den Nazis zu tun. Mit dem Bau wurde schon 1913 begonnen – nach einer Idee des Kaisers. Wilhelm II., ein passionierter Autoliebhaber, hatte es satt, dass die deutschen Rennfahrer international nicht mithalten konnten, und forderte eine Trainingsstrecke. Der Erste Weltkrieg sorgte für einige Verzögerung, aber 1921 war die Avus dann doch fertig. 90 Jahre alt wird sie also am 24. September.
Kurz vor dem Autobahndreieck Funkturm erinnert am linken Wegesrand eine riesige überdachte Tribüne an die frühere Rennfunktion. Mit den Gedanken an der Hitler-Zeit lagen Sie nicht ganz daneben: Die Tribüne wurde erst 1937 gebaut, gleichzeitig mit der extrem steilen Nordkurve. Die Nazis wollten Spektakel beim Autorennen, deswegen war ihnen die alte, flache Kurve zu langweilig. Die neue, 43,6 Grad steile und aus Backsteinen gemauerte Kurve war tatsächlich aufsehenerregender: Es gab viele schwere Unfälle und sogar einige Tote.
Erst 1967 war Schluss mit der Nordkurve. Offiziell heißt es, sie wurde abgerissen, weil sie zu gefährlich sei, in Wirklichkeit aber stand sie dem Autobahndreieck im Wege, das die Avus mit der nach und nach ausgebauten A100, Berlins Stadtautobahn, verbindet.
Bis heute entging die Tribüne dem Abriss, der Verfall jedoch schreitet weiter voran. Es gibt aber noch Hoffnung: Der heutige Besitzer will die offene Tribüne vollständig mit einer Glasfassade verschließen, damit ein riesiges Schaufenster entsteht. Statt Zuschauer sollen in Zukunft Autos auf der Tribüne Platz nehmen. Symbolträchtiger geht es kaum.
Im Herzen des Megabetonklotzes
Über die Jahrzehnte hat sich das Autobahndreieck Funkturm in einen Nudelsalat aus Zuleitungen, Tunnels, Fly-overs und Überführungen verwandelt. Leider hat man dieses Gewirr, bevor man genau hinschauen kann, schon wieder hinter sich gelassen. Sogar im Stau ist das Autotempo meist noch zu hoch, als dass man es sich in aller Ruhe ansehen könnte. Verzweifeln Sie nicht, es gibt einen hervorragenden Aussichtspunkt: das massive, unübersehbare Internationale Congress Centrum (ICC).
Folgen Sie konsequent den Hinweisschildern zum ICC, die einen im Kreis quer durch das Gebäude führen, fast bis zum Ausgangspunkt und dann hoch ins Parkhaus. Leider ist der Dachgarten im Moment gesperrt, doch der vierte Stock reicht aus. Aussteigen und staunen, wie die Umgebung sich in schwere Betonrahmen gefasst zeigt: die Rohheit der Autobahnen, das Raffinement der Messe, die Unerschütterlichkeit des ICC selbst.
Alles am fast 320 Meter langen und 80 Meter breiten ICC, einem typischen Produkt der siebziger Jahre, wirkt massiv, als wäre das Gebäude mit einer Spitzhacke aus einem Megabetonklotz gehauen. Die Außenseite ist mit Aluminium verkleidet – daher der gern gezogene Vergleich mit einem Raumschiff -, aber drinnen macht der nackte Beton klar, dass vom Fliegen nie die Rede gewesen sein konnte: Das ICC gehört zur Familie der Pyramiden. Auch die geringe benutzbare Fläche – die eigentlichen Säle bilden nur ein Zehntel des Gebäudes – weist darauf hin.
Mitte des vorigen Jahrzehnts wollte das Land Berlin als Eigentümer des ICC diesen überalterten, asbestbelasteten Komplex abreißen lassen. So weit kam es nicht: 2008, kurz vor Toresschluss, wurde der Senat sich des historischen Wertes dieser "städtebaulichen Ikone der Neuzeit" bewusst und beschloss die Sanierung. Eine Vorzugsbehandlung, die eine ähnlich asbestverseuchte Ikone Ost-Berlins, der Palast der Republik, nicht bekam. Denkmalschutz, oder gerade seine Unterlassung, ist immer ideologiebezogen.
Tunnel durch den dritten Stock
Weiter geht es in östlicher Richtung, den Wegweisern nach Wilmersdorf und zum Flughafen Schönefeld folgend. Sogleich kommt man auf den ältesten Abschnitt der A100, vor 52 Jahren gebaut. Nur mit viel Glück kann man hier die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 80 Kilometern pro Stunde ausfahren: Diese Strecke ist die meistbefahrene Deutschlands.
Die mehr als 190.000 Autos, die hier täglich passieren, bilden ein riesiges Publikum. Hier würde man etwas dramatisch Modernes erwarten, wie ein glänzend gewölbtes Gebäude, einen aerodynamischen Lärmschutzwall oder eine Fernsehwand, die die potentielle Aufmerksamkeit mit interaktiven Werbesendungen ausnutzt. Am linken Wegesrand sieht man aber nur blinde Wände, auf die Werbungen gepinselt sind, genauso, wie es vor einem Jahrhundert auch schon üblich war. Die blass gewordenen Farben bieten einen so anachronistischen Anblick, dass es einem warm ums Herz wird.
Rechts stellt sich eine ganz andere Szene dar: Da ragen die drei Schornsteine des Heizkraftwerks Berlin-Wilmersdorf mehr als hundert Meter in die Höhe, mit einer ikonografischen Kraft, die so stark an die Londoner Battersea Power Station erinnert, dass sogleich die Gitarrensoli von Pink Floyd im Ohr klingen. Weltberühmt wurde die Power Station nämlich durch das Coverfoto des Albums "Animals". Welche Band bringt wohl das Berliner Kraftwerk einmal zum Klingen?
Man hat alle Zeit, die Dreierreihe zu bewundern, weil wir gerade an ihrem Fuß die Ausfahrt 14 nehmen und von der A100 auf eine kleine Autobahnstrecke ohne Nummer wechseln. Die Augen bekommen keine Ruhe, weil man gleich danach auf ein großes gelbes Gebäude zufährt, das man nicht, wie man erwarten würde, links oder rechts umgeht, sondern einfach durchschneidet. Wenn man beim Verlassen des langen Tunnels in den Rückspiegel guckt, sieht man die Hinterseite des Gebäudes. Das Ding wird doch nicht etwa so lang sein? Doch, ist es.
Das mehr als 1000 Wohnungen umfassende Haus an der Schlangenbader Straße ist nicht, wie anfangs geplant, in die Höhe gezogen und neben die Autobahn gestellt worden, sondern wurde vom Architekten Georg Heinrichs auf einer Länge von 600 Metern über die Autobahn gelegt. Oder sollte man besser sagen, dass ein Autobahntunnel im zweiten und dritten Stock längs durch das Gebäude hindurchgebohrt worden ist?
400 Millionen Mark hat der Komplex gekostet, und er war heftig umstritten, weil er als Symbol diente für die Macht der Verkehrsplaner, die die Autobahn durch die ganze Stadt hauen wollten, über die Trassen, die Albert Speer schon zur Nazi-Zeit geführt hatte. Vielleicht ist dem Gebäude auch deswegen der nicht besonders originelle Spitzname "Schlange" zugefallen.
Richard von Weizsäcker, damals Berlins Regierender Bürgermeister, soll gesagt haben: "Wenn der Teufel dieser Stadt etwas Böses antun will, lässt er noch einmal so etwas wie die ‘Schlange’ bauen." Als das Gebäude dann Ende der achtziger Jahre verlotterte, war der Ruf definitiv im Eimer. Eine kostspielige Sanierung und der Einsatz von vielen Wärtern und Überwachungskameras brachten den Komplex zurück ins Schwingen. Wer sich mal die Beine vertreten möchte: schnell aussteigen hier – dazu nimmt man die Ausfahrt Mecklenburgische Straße.
Vor allem an der Ostseite zeigt die "Schlange" ihr anderes Gesicht: Das terrassenförmig auslaufende Gebäude umfasst einen grünen Innenhof, und wirklich, hier hört man nur Vögel, keine Autos. Hier bekommt man eine Vorstellung des Gesamtkunstwerks aus Autobahn und Gebäude, wie es sich die optimistischen Architekten der Nachkriegszeit erträumten. Und wenn man die Bewohner fragt, wie es ihnen hier denn so gefällt, sind die Antworten für Berliner Schnauzen erstaunlich positiv.
Ufo mit Übergewicht
Nach der "Schlange" führt die Autobahn noch einen halben Kilometer weiter, kommt dann, dank der Bürgerproteste der Siebziger, abrupt zu einem Ende und geht als klassische Straße mit Ampeln, Bäumen und Bürgersteigen weiter. Und mit stark verschmutzten Hausfassaden, weil der Verkehr sich auch von einem fehlenden Autobahnabschnitt nicht bändigen ließ.
Gerade wenn man denkt, man sei richtig in der traditionellen Stadt gelandet, erscheint eine Fata Morgana aus Beton. Schwer zu sagen, was es ist. Ein riesiger Dauerlutscher? Ein Ufo mit Übergewicht? Ein Meteorit, der eine Balanciernummer übt? Kurz vor dem Gegenstand erhebt sich die Straße und wird wieder zur Autobahn: Dieser Abschnitt war nämlich schon fertig, als der Widerstand der Bewohner in Fahrt kam. Den Turm kann man ganz einfach besuchen, weil man, sehr außergewöhnlich, hier auf der Standspur parken darf.
Der Bierpinsel, so der Spitzname dieses 46 Meter hohen Turms, ist 1971 nach einem Entwurf des Architektenehepaares Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte errichtet worden. Die üppige Verwendung von Beton, die überbreiten, in Podeste ausmündenden Treppen und die sich wölbenden Rippen weisen schon voraus zum acht Jahre später von den Schülers errichteten ICC.
Das Restaurant, die Disco und die Kneipen, die der Turm früher beherbergte, kann man leider nicht besuchen: Schon seit 2002 haben sie geschlossen, das Gebäude steht leer. Voriges Jahr wurde der Turm Opfer eines Kunstprojekts: Auf Einladung des Inhabers ist das Objekt von vier Graffiti-Artisten bemalt worden. Das Architektenehepaar war "stinksauer" über diesen "Klamauk" und forderte vergeblich, dass der Pinsel wieder rot gestrichen werde. Ralf Schüler starb im März 2011 im Alter von 80 Jahren.
Dieser ziemlich lockere Umgang mit der historischen Qualität dieses Denkmals steht im auffälligen Kontrast zu einem Bauprojekt gleich gegenüber. Da wird eine unter Denkmalschutz stehende leichte Glasfassade aus den fünfziger Jahren mit stählernen Trägern sorgfältig aufrechtgehalten, damit sie in ein neues Einkaufszentrum eingebaut werden kann.
Inselhunde im Grünen
Weiter geht es auf die letzte Etappe. Beim Viadukt biegt man links ab in Richtung Schöneberg, und schon ist man wieder auf einer nummerierten Stadtautobahn, der A103. Mit einer Länge von fünf Kilometern ist es eine winzige Autobahn, eigentlich ist sie lediglich ein Zubringer der A100. Das war anders gedacht: In den sechziger Jahren wurde der A103 noch eine blendende Zukunft versprochen, sie sollte die Westtangente Berlins werden und nahe am Brandenburger Tor quer durch den Tiergarten führen.
Der Bau der Stadtautobahnen ist eine Geschichte der megalomanen Visionen und ihres demütigenden Scheiterns. An den langjährigen Planungen kann man den Streit zwischen Verkehrsplanern und Bürgern ablesen sowie den Sieg der Letzteren. 1965 waren noch vier Tangenten vorgesehen, die das Zentrum einschnüren sollten. 1977 war nur noch die Westtangente in Planung, 1979 wurde diese dann halbiert, und ab 1981 blieb das Berliner Zentrum jungfräulich weiß auf den Karten der zur Bescheidenheit gezwungenen Verkehrsexperten. Nur den Plan, die A100 in östliche Richtung zu verlängern, haben sie nie aufgegeben: Darüber wird noch immer gestritten.
Den Bruch in der Stadtplanung erfährt man buchstäblich, wenn man der A103 folgt und beim Autobahnkreuz Schöneberg nicht die A100 nimmt, sondern stur geradeaus Richtung Tiergarten fährt. Bei den Ampeln des Sachsendammes ist Schluss. Wer sich ansehen will, wie der weitere Verlauf der Autobahn gedacht war, muss zu Fuß weiter.
Neben der Tankstelle kann man das Auto abstellen, man läuft an "Alis Autohandel" entlang, und schon stößt man auf ein grünes Gitter mit dem Schild "Inselhunde". Verriegelt ist der Hundeauslaufplatz nicht, man kann einfach hineingehen. Eine kleine, wilde Grünanlage entfaltet sich, an deren Ende eine Überdachung aus Holz gebaut worden ist. An normalen Werktagen herrscht Ruhe hier. Ein paar vereinzelte Plastikstühle stehen herum, Spatzen nehmen ein Sandbad, der Wind flüstert in den Pappeln. So schön können gescheiterte Pläne sein.