Die Verkehrsregeln in Shanghai sind extrem simpel – es gibt eigentlich nur eine: Der Stärkere hat Recht. Anders ist es nicht zu erklären, dass zum Beispiel Linksabbieger dem entgegenkommenden Geradeausverkehr nur dann die Vorfahrt lassen, wenn sie ernsthafte Verletzungen fürchten müssen. Gegenüber Fahrradfahrern sind diese Bedenken offensichtlich kaum vorhanden – jedenfalls ist mir die Vorfahrt kein einziges Mal eingeräumt worden.
Auch nach mehreren Tagen im Sattel habe ich immer noch Mühe, mit den rüden Sitten zurecht zu kommen, die Shanghai herrschen. Aber ich habe das Gefühl, dass nicht nur Ausländer in der chinesischen Metropole davon betroffen sind. Im Grunde ist in China die gesamte Radfahrerschaft in die Defensive geraten. Denn in dem Land werden zwar drei Viertel aller Fahrräder weltweit produziert, aber es wandelt sich mit großer Geschwindigkeit zur Autofahrernation. 2009 fuhren allein in Shanghai schon fast eine Million Autos herum, chinaweit waren es mehr als 38 Millionen. Diese Zahl soll sich in den kommenden zehn Jahren mindestens verfünffachen.
Lange Jahre war China für seine Boulevards berühmt, die allein für Fahrradfahrer reserviert waren. Doch diese Zeiten sind unwiderruflich vorüber. Jetzt stauen sich dort Autos, wie in jeder anderen Metropole auch. Mittlerweile versucht die Regierung gegenzusteuern und bietet den Fahrradfahrern wenigstens halbwegs abgetrennte Streifen an, aber bei Hunderten von Millionen Fahrradfahrern ist das nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Doch die Radfahrer haben ganz eigene Strategien entwickelt um sich zu behaupten, wie ich langsam entdecke.
In der Masse stark
Wenn ein Fischschwarm einen Hai spürt, dann drängen sich die Tiere aneinander, damit es schwieriger wird, sie als separate Beute wahrzunehmen. Außerdem ähneln sie auf diese Weise einem riesigen Fisch, was den Hai abschrecken soll. Diesen Instinkt haben die Shanghaier Radfahrer offensichtlich verinnerlicht. Weil es ein ziemliches Wagnis ist, einen vierspurigen Weg alleine zu überqueren, wartet man, bis sich ein kleiner Trupp versammelt hat, und erst dann drängt man ganz vorsichtig einen Schritt nach vorne, und dann noch einen. Augenscheinlich wie von selbst schließen sich immer mehr Fahrradfahrer und Fußgänger dem Zug an, und voilà: Die Autos bremsen und man kommt ungefährdet über die Straße. Die einfachere Variante ist: Man fährt dem Verkehr am linken Straßenrand entgegen.
Meist geht das gut, weil die Geschwindigkeiten in China noch immer sehr niedrig sind. Vor allem wenn es viel Verkehr gibt, ist es als schwebten Fahrräder, Mopeds und Autos in Zeitlupe aneinander vorbei, wie in kollektiven Tai-Chi-Bewegungen. Es fällt mir schwer, mich diesem Tempo anzupassen, aber wenn ich mich zur Ruhe zwinge, dann geht es. Wenn es mir gelingt, mich einfach treiben zu lassen, bringt das eine große Ruhe. Das ich dadurch ab und zu eine Abzweigung verpasse, nehme ich als neuer Lemming gerne im Kauf.
Der Verkehr wirkt auch ruhig, weil kaum einer überholt oder plötzlich die Spur wechselt. Jeder verfolgt seinen eigenen trägen Kurs – auf der richtigen Straßenseite, oder auch nicht – und beharrt darauf, wenn es irgend geht. Den Kurs um ein paar Grade ändern oder kurz innehalten, um einen Unfall zu vermeiden, das geht noch, abrupte Manöver aber keinesfalls. Anhalten für einen Fußgänger auf dem Zebrastreifen? Nur wenn man ihn auf keine andere Art und Weise umfahren kann.
Lockerer Umgang mit den Verkehrsregeln
Dieses verschlafene Ballet ist wie von einem unsichtbaren Marionettenspieler gesteuert, keiner zeigt erkennbar die Richtung an, oder vermittelt den anderen Verkehrsteilnehmern auf eine andere Weise was er vorhat. Und wenn es Zeichen gibt, dann bleiben sie mir als Europäer verborgen.
Die Deutschen schimpfen gerne über ihre anarchistischen Landsleute auf dem Fahrrad, die alle Regeln verletzen. Die Chinesen gelten als noch viel gehorsamer gegenüber der Obrigkeit – und trotzdem gehen sie im Alltag weit lockerer mit ihren Gesetzen um. Verkehrslotsen versuchen die Fahrradfahrer durch Pfeifen davon abzubringen, die Straße zu überqueren, wenn die Ampeln in der Querrichtung noch grün zeigen, aber das gelingt ihnen nur, wenn sie sich den Radfahrern gleichzeitig in den Weg stellen.
Sicherheitsmaßnahmen fehlen eigentlich völlig. Ein Fahrrad mit Licht? Höchst selten. Eine Klingel? Die sind Sammlern auf der Suche nach Waren vorbehalten. Das einzige, was noch im entferntesten an ein Bedürfnis erinnert, sich zu schützen, ist der Mundschutz gegen Auspuffgase und Staub.
Geschönte Statistiken
Glaubt man den chinesischen Behörden, dann ist die Zahl der Verkehrsunfälle, unter anderem durch die Radwege deutlich gesunken. Zwischen 2004 und 2009 ging die Zahl der Todesfälle laut offizieller Statistik auf 67.000 pro Jahr zurück. Anfang dieses Jahres kam aber heraus, dass die Polizei die Daten fälscht: Die Todesfallstatistik des Gesundheitsministeriums zeigt fast eine dreifach größere Zahl. Statt der polizeilich behaupteten Senkung von 28 Prozent, ist von einer Zunahme der Verkehrsopfer um 8 Prozent die Rede. Und mit dem prognostizierten Wachstum des Autoverkehrs dürfte eine weitere Zunahme zu befürchten sein.
Einen Lichtblick gibt es aber: Die neuen elektrischen Fahrräder erfreuen sich großer Popularität und machen dem Auto unerwartet Konkurrenz. Chinaweit werden schon viermal mehr E-Fahrräder verkauft als Autos, man sieht die unterschiedlichsten Modelle herumfahren. Vielleicht erfindet sich China mit diesen umweltfreundlichen, bequemen Beförderungsmitteln erneut als wegweisendes Land für Fahrradfahrer.