Die Hauptstadt hat plötzlich ein Wahlkampfthema: Wenn’s dunkel wird in Berlin, brennen Autos, zuletzt mehrere Nächte in Folge. Insgesamt standen in diesem Jahr schon mehr als 300 Wagen in Flammen. Die Polizei ist machtlos, und die Politik sucht wenige Wochen vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus Antworten auf die Fragen: Wie lassen sich die Zündler stoppen?
Über ihre Motive ist bisher nichts bekannt. Es könnten unpolitische Pyromanen sein, Trittbrettfahrer, Versicherungsbetrüger. Doch mit jedem verkohlten Autowrack fällt der Verdacht auch auf die linksautonome Szene. Brennende Autos als Zeichen des Kampfes zwischen Arm und Reich? Tatsächlich befeuern die Zündler buchstäblich die Debatte über die Spaltung der Stadt.
Denn nirgendwo sonst in der Republik prallen soziale Welten aufeinander wie in Berlin. Da sind die jungen Gutverdiener, die sich in Szenevierteln niederlassen, der Kiez verändert sich, die Mieten steigen, die Alteingesessenen werden verdrängt. Gentrifizierung nennt sich das. Wie hat sich das Gesicht Berlins gewandelt seit dem Fall der Mauer vor mehr als 20 Jahren. Wer hat profitiert, wer ist abgehängt? Welche Viertel boomen, welche verfallen? Und wie sieht die Zukunft aus? Dazu lohnt sich ein Streifzug durch die Straßen und Viertel.
Gleimstraße lautet die Adresse eines typischen Berliner Gegensatzes: Der Ostteil der Straße zeigt das Berlin aus dem hippen Reiseführer – bunt, weltoffen, lässig. Ein Geschäft neben dem anderen, man kann Sushi essen, Guinness trinken und sich coachen lassen. Geht man jedoch durch den langen, dunklen Gleimtunnel zum westlichen Ende der Straße, betritt man eine andere Welt. Adieu Prenzlauer Berg, willkommen im Wedding.
Nicht dass hier die Fassaden abblättern oder Löcher im Pflaster klaffen. Aber man spürt Bedürftigkeit. Die Leute wirken arm, es gibt kaum Läden. Eine Ausnahme fällt sofort auf – eine elegante Konditorei mit einer kleinen Terrasse. Vorigen Sommer sei er aus Prenzlauer Berg hierher gezogen, erzählt Inhaber Ronny Schmeil, das gehobene Milieu dort langweilte ihn, er wollte mal experimentieren. Ein mutiger Versuch, aber wenn er von der Zukunft redet, fällt immer wieder das Adjektiv "schwierig". Vielleicht, fürchtet er, war der Sprung zu weit.
Der Gleimtunnel ist auch eine ethnische Trennlinie. Der östliche Teil der Gleimstraße lag früher in der DDR, und da sieht man fast nur einheimische Deutsche, ein paar Touristen dazu und Wahl-Berliner aus der gesamten westlichen Welt. Am anderen Ende der Straße leben vielen Türkischstämmige. Berlin scheint immer noch geteilt. Oder ist das eine Überinterpretation des ersten Eindrucks?
Mosaik für Statistiker
Um die Entwicklung einer Stadt zu verstehen, kann man zwei Wege gehen. Der eine ist mit Dateien, Tabellen und Karten gepflastert. Alles wird gezählt und sortiert, auf einen gemeinsamen Maßstab umgerechnet.
Grobe Daten, wie sie etwa auf Bezirksebene erhoben werden, reichen da heute nicht aus, die Statistiker brauchen ein viel feineres Raster. Schon seit 2006 heißt ihre Währung nicht mehr Bezirk, Kiez oder Viertel, sondern LOR – "Lebensweltlich orientierter Raum".
Berlin ist flächendeckend in 447 dieser Einheiten aufgeteilt. Jeder LOR beherbergt im Schnitt 7500 Einwohner. Anders als Postleitzahlengebiete, die eine Stadt nur abstrakt in Flächen aufteilen, haben diese LOR im Alltag der Menschen eine Bedeutung. Es sind meistens kleine Quartiere oder Viertel im Viertel, die durch Hauptstraßen, S-Bahnlinien, Parks oder Wasserwege voneinander getrennt sind.
Gleimstraße-West gehört zum LOR 01033201: Hier hat mehr als ein Viertel der Einwohner einen türkischstämmigen Migrationshintergrund.
Im Osten, auf der anderen Seite des Tunnels liegt der LOR 03061131, dort stammen noch exakt 18 Einwohner aus der Türkei, also jeder Fünfhundertste.
Die Gleimstraße ist keine Ausnahme. Wenn man die komplette LOR-Liste nach dem Anteil der türkischstämmigen Einwohner sortiert, dann taucht erst auf Platz 109 ein LOR aus dem ehemaligen Osten auf. Aber noch klarer wird das Bild, wenn man die LOR-Daten auf einen Stadtplan überträgt. Messerscharf zeichnet sich die ehemalige Mauer ab. Auf der Westseite die Quartiere mit einem hohen Prozentsatz an türkischstämmiger Bevölkerung; östlich davon gibt es kaum Deutsch-Türken.
Aber die Bestandsaufnahme der Statistiker liefert immer nur einen Rückblick und zeigt nicht, was sich gerade tut. Wenn man in die Zukunft eines Stadtteils blicken will, muss man sich eines Tricks bedienen.
Wo die Kanarienvögel sitzen
Bergarbeiter nahmen früher Kanarienvögel mit in die Grube, weil diese extrem empfindlich waren für Veränderungen in der Luft. Wenn der Sauerstoff knapp wurde, hörten sie auf zu singen. Mit einer Übertragung dieser Methode kann man versuchen, die Zeichen einer Stadt zu lesen: Welche Anzeichen für einen Boom oder Abstieg gibt es? Wo sitzen in einer Stadt die Kanarienvögel?
Nehmen wir als Beispiel die Müllerstraße in Berlin-Wedding. Dort gibt es über eine Strecke von nicht einmal 150 Metern sechs Lokale. Das "Bet 3000", "Spielcafé", "Cafe Corner", noch mal "Bet 3000", "Cafe Shisha Live Sport" und "Albers Wettbörse". Dazu kommen kleinere Eckkneipen und Imbiss-Restaurants, die ein paar Spielautomaten in der Ecke aufgestellt haben.
Spielhallen und Wettbüros sind ein doppelter Indikator für die soziale Lage eines Quartiers. Zum einen ziehen sie Menschen an, die in Geldnot sind. Und für die Geschäftsleute in solchen Vierteln bedeutet der Automat im Laden einen Zuverdienst, ohne den sie möglicherweise nicht überleben könnten.
Spiellokale als Brennpunkt-Indikator?
Wer die 494 Adressen von Spielhallen und Wettbüros auf dem Berliner Stadtplan einträgt, kommt zu einem überraschenden Ergebnis: Erneut wird der Verlauf der Mauer sichtbar. Die Spiellokale konzentrieren sich westlich der früheren Grenze, dort gibt es durchschnittlich mehr Arbeitslose, Türkischstämmige – und die Kombination von beidem. Eine weitere Konzentration findet man in Marzahn/Hellersdorf, am östlichen Stadtrand Berlins.
Gibt es umgekehrt auch einen "Kanarienvogel", der den sozialen Aufstieg eines Bezirks meldet? Die Suche nach einem Pendant zu den Spielhallen fängt wieder im Wedding an. Dort ist es gar nicht so einfach, Lebenmittel mit dem Etikett "Bio" zu kaufen. Nur zwei Biomarkt-Adressen führt die Website der "Fördergemeinschaft Ökologischer Landbau Berlin-Brandenburg" hier auf.
Ganz anders im Nachbarviertel Prenzlauer Berg: Der Ortsteil ist deutschlandweit bekannt als das Biotop des Bionade-Biedermeiers – er hat gleich 17 Biomärkte.
Im Westen liegt die Zukunft
Schöneberg und Kreuzberg waren schon vor der Wende alternative Epizentren. In den neunziger Jahren strömten viele Neu-Berliner nach Prenzlauer Berg, Anfang der Jahrtausendwende war Friedrichshain in. Alle vier Stadtteile gelten als besonders wandelbar, in allen vier Stadtteilen gibt es überdurchschnittlich viele Bioläden.
Sind diese Ortsteile nun per se wohlhabender als die Spielhallen-Hochburgen? Nur bedingt. Die Villen-Viertel Zehlendorf und Frohnau zählen zum Beispiel viel weniger Bioläden, als man aufgrund des Durchschnittseinkommens ihrer Bewohner erahnen würde.
Seit zwei Jahren ist der Stadtteil Neukölln Nord hot, er ist Berlins neue Attraktion. Wurde dieses Viertel bisher nur mit Drogen, Kriminalität, Schulabbruch und der "gescheiterten multikulturellen Gesellschaft" (Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky) in Verbindung gebracht, eilen jetzt Touristen aus Deutschland und aller Welt hierher.
Wenn man die Bioladen- und Spielhallen-Verteilung studiert, fällt auf, dass Neukölln-Nord von beiden ziemlich viele beherbergt. Es gibt sieben Spielhallen und vier Bioläden – in diesem Herbst eröffnet ein weiterer. Bürgermeister Buschkowsky hofft bereits, dass sich der Trend der hereinziehenden "Bio-Deutschen" durchsetzt. "Ein bisschen Gentrifizierung können wir hier wohl gebrauchen", sagt er.
Fröhliche Koexistenz
Eine Kombination von vielen Spielhallen (als Anzeiger sozialer Probleme) und Bioläden (als Indikatoren für einen Aufschwung) ist längst keine Garantie dafür, dass sich eine Gegend zum Positiven entwickelt. Aber die Kanarienvögel Berlins weisen darauf hin, dass jene Stadtviertel mit einem gesunden Mix offensichtlich über hohes Maß an interkulturellem Miteinander verfügen.
Nur zwei dieser Orte liegen im ehemaligen Osten: der Helmholtzplatz im nördlichen Prenzlauerberg und der Traveplatz in Friedrichshain. Die meisten dieser Orte liegen in West-Berlin: der Kreuzberger Graefekiez, Friedenau, die Moabiter Emdenerstraße, die Tempelhofer Manteuffelstraße und Alt-Tegel in Reinickendorf.
Dass es im Westteil der Hauptstadt überraschend viele dieser "urbanen Labore" gibt lässt darauf schließen: Die Zukunft Berlins liegt westlich der Mauer.
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