Es gibt ein Gerücht, dass es in Sankt Petersburg einen richtigen Fahrradweg gäbe. Es sollte in der Nähe des Prospekts Prosveshcheniya sein, an der nördlichen Stadtgrenze. Eine russische Freundin beteuert, sie habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Aber wie man dahin kommt? Jedenfalls nicht auf dem Fahrrad, meint sie, das wäre zu gefährlich. Zu gefährlich? Für einen Amsterdamer Fahrradfahrer?
In einem dunklen, gut versteckten Innenhof finde ich einen Verleih. Hier kann ich ein Onix mieten, ein Citybike, das zwar in China produziert, aber von einem Russen konzipiert worden ist, wie der Vermieter nicht ohne Stolz erklärt. Dann wünscht er mit einen breiten Lächeln gute Fahrt.
Draußen sehe ich nur eine Handvoll Fahrradfahrer, die unerschrocken die sechsspurigen Straßen nutzen, die die Stadt durchschneiden. Die Gretchenfrage in Petersburg ist, ob man sich zwischen die rasenden Autos wagt oder sich doch lieber auf den sicheren Bürgersteig beschränkt. Die einmal gefällte Entscheidung lässt sich nicht so einfach revidieren, denn die Bordsteinkanten sind so hoch, dass man sich kaum noch schnell in Sicherheit bringen kann, wenn man auf der Straße plötzlich eingekeilt wird.
Verunsichert fange ich auf dem Bürgersteig an, aber da komme ich mich schon schnell vor wie ein Kind, das am Plastiklenkrad an seinem Kindersitz dreht und stolz denkt, dass es wirklich die Richtung beeinflusst. Schnell reicht es mir mit diesen Trockenübungen, los, auf die Straße.
Autofahrer halten Abstand
Platz hat man ausreichend, weil die Boulevards nicht so überfüllt sind wie in Moskau und sich die Zahl der Verkehrsrowdies in Grenzen hält: Es ist mehr ein gleichmäßiges Strömen als ein wildes Gewühl. Wahrscheinlich sind die Autofahrer aber aus ganz eigennützigen Gründen so vorsichtig: Sie haben eher Angst um den Lack ihrer teuren Wagen als um das Leben der anderen. Sei’s drum – jedenfalls schaffen sie Platz, wenn man nur klipp und klar zeigt, dass man nicht bei Seite gehen wird.
Auch die Angst vor der Polizei erweist sich als unnötig: Die Ordnungshüter betrachten die Fahrradfahrer als Fußgänger und plündern sie nicht mit Strafzetteln aus wie die Autofahrer. Sogar über Rot fahren oder Kreuzungen quer überschneiden irritiert sie zu meiner Überraschung nicht außerordentlich. Nur gegenüber den sogenannten Marschrutkas ist Vorsicht geboten. Diese Minibusse fahren feste Strecken und scheren gerne mal unerwartet in Richtung Straßenrand aus, wenn ein Passagier aussteigen will. Im Ernstfall hilft nur die Notbremse, denn Ausweichmöglichkeiten gibt es nicht
Wenn man ansonsten beim Passieren geparkter Wagen auch noch ein bisschen aufpasst, und auch noch darauf achtet ob keine Kanaldeckel fehlen, kann in Prinzip nicht mehr viel schief gehen.
Nach den ersten Prospekten, wie die russischen Boulevards heißen – der Name ist vom lateinischen Perspectivus abgeleitet – habe ich den Bogen heraus. Leider zeigt sich schnell auch die Schattenseite der langen Blickachsen: Die Wege sind schnurgerade und dementsprechend langweilig. Ich will da weg. Und dann entdecke ich, dass es außer Sicherheit noch einen Grund gibt, auf dem Bürgersteig zu fahren: Die Tore in den strengen, Hunderte Meter langen Fassaden eröffnen ein ganz neues St. Petersburg. Innenhöfe, die vielfältig mit einander verbunden sind. Viele davon sind zwar mit Schranken versperrt, damit wilde Parker draußen bleiben müssen, aber sie lassen Radfahrern genug Platz, um diese geheimnisvolle Welt zu betreten.
Refugien für die Bevölkerung
Genau wie alte historische Städte über ein Gewirr von Gassen verfügen, so hat sich auch diese am Zeichentisch entstandene Stadt ihre Refugien geschaffen – ein Labyrinth von Innenhöfen. In dieser parallelen, verborgenen Welt kann man spielende Kinder beobachten, Mütter, die die Wäsche zum Trocknen aufhängen, oder Jugendliche, die ein Stück Rasen als Bolzplatz nutzen. Hier, in der Transitzone zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, ist es ruhig, es gibt Birken und Flieder, Vögel und Bänke, und ab und zu eine Werkstatt, ein Lager oder einen Jazzklub.
Offizielle Stadtpläne nützen auf solchen Irrfahrten nichts, weil diese nur die repräsentative Stadt zeigen. Die Kartografen sollten den Architekten Giambattista Nolli studieren, und seinen berühmten Stadtplan von Rom. Nolli zeichnete 1748 nicht nur die Straßen und Plätze der Stadt, sondern auch öffentlich zugängliche Räume wie Kirchen, Bibliotheken und Passagen. Auf einem solchen Plan würde Petersburg gar keine geradlinige Stadt sein, sondern ein fröhlicher Wirrwarr von Fahrradstrecken.
Begeistert von diesem unerwarteten Freiraum, überquere ich den Dvortsovaya Platz, bemerke, dass das Tor der Hermitage einladend offensteht und schieße hinein. Im Seitenblick nehme ich den fassungslosen Gesichtsausdruck des Torwächters wahr, der aus seiner Kabine stürmt. Mich verlässt der Mut, ich halte an und mache mich auf das Schlimmste gefasst. Doch der Mann bleibt freundlich, aber bestimmt: Nein, auch wenn ich das Fahrrad schiebe, darf ich es nicht mit in den Innenhof nehmen. Er stellt mir aber frei, es an den wunderschönen, schmiedeeisernen Gittern anzuketten.