Berlin/Amsterdam – Das Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin ist erledigt, die Debatte in der SPD nicht. Im Gegenteil. Seit der Kehrtwende von Gründonnerstag reiben sich viele Sozialdemokraten wieder an dem streitbaren Autor. Wie er in seinem Buch migrationspolitische Themen anfasst, finden viele in der Partei unerträglich.
Traditionell bereitet die Zuwanderung neuer Gruppen den Sozialdemokraten Schwierigkeiten: Die ehemaligen Gastarbeiter und ihre Kinder bilden einerseits eine Zielgruppe, die man, im Tausch für Stimmen, unterstützen und emanzipieren will. Andererseits sind die klassischen sozialdemokratischen Wähler aus den bildungsfernen Schichten diejenigen, die die Probleme einer multikulturellen Gesellschaft am eigenen Leibe erfahren.
Mit diesem Spagat tut die SPD sich noch immer sehr schwer. Die sozialdemokratische Partei der Niederlande, die PvdA, ist schon weiter vorgeschritten bei der Frage, wie man mit der multikulturellen Gesellschaft am besten umgehen könnte. Ein Blick über die Landesgrenze könnte also hilfreich sein für den gequälten SPD-Vorstand.
Ein muslimischer Amsterdamer Beamter, der sich weigerte, einer Kollegin die Hand zu schütteln: Das war Anfang 2008 der Anlass zu einer heftigen Debatte innerhalb der niederländischen sozialdemokratischen Partei. "Die Verweigerung ist aus religiösen Gründen gestattet", argumentierten sozialdemokratische Koryphäen wie Job Cohen, damals Bürgermeister von Amsterdam. "Händeschütteln ist in den Niederlanden zwar nicht gesetzlich verpflichtet, aber gesellschaftlich mehr als erwünscht", meinten dagegen andere, wie der damalige Finanzminister Wouter Bos. Die Folge war ein langer, innerparteilicher Streit über die Art und Weise, in der die Sozialdemokraten sich die vergangen Jahrzehnte über mit Migranten auseinandergesetzt hatten: Hatten sie sie sich zu lange weich gezeigt?
Die Debatte mündete ein Jahr später in eine vielbeachtete Parteiresolution mit dem Titel: "Uneinheitliche Vergangenheit, geteilte Zukunft". Zum ersten Mal wurde darin der Standpunkt vertreten, dass Menschen die sich über die multikulturelle Gesellschaft aufregen, nicht automatisch Rechtsradikale seien. "Sie ist nicht nur eine Bereicherung, viele Menschen werden sie auch als Bedrohung erfahren", hieß es.
Auf lokaler Ebene war das in der PvdA schon länger klar: Ausgerechnet Politiker, die selbst einen Migrationshintergrund haben, wie Ahmed Aboutaleb, der heutige Bürgermeister von Rotterdam, oder Ahmed Marcouch, "der Sheriff von West" (womit der Stadtteil Amsterdam-West gemeint ist ), plädierten schon länger für eine härtere Linie. Jetzt hieß es auch offiziell: "Wir reden alle Niederländisch, wir kennen unsere elementaren Umgangsformen und wir respektieren und kennen die Geschichte unseres demokratischen Rechtsstaates."
Für das Problem des Händeschüttelns gilt seitdem eine neue Taktik: Zwischen Normieren – also gesetzlich erzwingen – und Dulden wird von der PvdA das Konfrontieren als dritte Methode eingesetzt. Unerwünschte Abweichungen von gesellschaftlichen Normen sollen zum Thema gemacht und in aller Öffentlichkeit diskutiert werden. In Deutschland mag sich das vielleicht wenig beeindruckend anhören, aber in den Niederlanden, wo Toleranz über die Jahre in Desinteresse und Weggucken umgekippt ist, ist das ein wesentlicher Schritt.
Es kostet die Partei keine Migrantenstimmen, wie manche dachten: Bei den Wahlen Anfang dieses Jahres blieb die PvdA unter Migranten bei weitem die beliebteste Partei. Die Hälfte der türkischstämmigen Einwanderer wählte sozialdemokratisch, bei jenen aus Marokko waren es sogar über zwei Drittel.
Vielleicht ist ein sachlicher, an konkreten Problemen orientierter Umgang mit der multikulturellen Gesellschaft der einfachste Weg aus der Zwickmühle, in der die deutschen Sozialdemokraten stecken. Jedenfalls hatte eine Umfrage nach dem am meisten überschätzten aktuellen Problem, die die Wochenzeitung "De Groene Amsterdammer" vorige Woche unter 75 niederländischen Wissenschaftlern durchführte, ein interessantes Ergebnis: Integration.