Schon nach meiner ersten Woche in Berlin hätte ich ein Königreich für ein Fahrrad gegeben. Okay, die U-Bahn ist schnell und bequem, aber unpraktisch, wenn man die Stadt kennen lernen will. Ich steige beim libanesischen Imbiss Ya Karim in Wedding hinab und tauche bei der Galerie Lafayette in der Friedrichstraße wieder auf. Was dazwischen liegt? Keine Ahnung.
Und dann werde ich gerettet von einem Freund, der mir sein Fahrrad borgt; ein ordentliches Rad mit 21 Gängen und einer Klingel. "Vorsicht", ruft er mir noch hinterher, "die deutschen Autofahrer können sich ganz schön aufregen." Aber ich bin schon weg, das kriege ich schon hin.
Kaum losgefahren merke ich, wie sehr mir das Radfahren gefehlt hat. Ich bin wieder ein freier Mensch, kann mir wieder selbst den Weg durch das Dickicht der Großstadt bahnen.
In Berlin ist das ganz einfach, in kürzester Zeit habe ich mich zurechtgefunden. Wie überall muss man die Autofahrer einfach gut beobachten, damit man die Lücken, die sie lassen, nutzen kann. Eigentlich ist es sogar einfacher als in Amsterdam, weil die Berliner Straßen breit und gerade sind und dementsprechend übersichtlich.
Radfahrer haben eine faire Chance
Es macht Spaß, sich durch zwei Reihen Autos zu quetschen, die vor einer roten Ampel warten. Genau wie es einen Kick gibt, rechts an einer langsam fahrenden Kolonne vorbei zu fahren. Oder sie, wenn sie zu nah am Bordstein entlang kriecht, einfach links zu überholen. Nur auf Bürgersteigen zu fahren vermeide ich: Fußgänger sind die schwächere Partei, die soll man nicht in Schrecken versetzen.
Langsam komme ich immer besser in Schwung und nehme meine Amsterdamer Gewohnheiten an. So nutze ich gern den kurzen Moment, in dem alle Ampeln Rot zeigen, um eine Kreuzung wie in einem Vakuum zu überqueren. Ein Helm nützt dabei wenig, gute Nerven umso mehr.
Die Autofahrer zeigen sich – vorsichtig ausgedrückt – nicht immer begeistert von meinem Fahrstil, aber zum Glück belassen sie es bei bösen Blicken. Dass meine Aktionen sie behindern, können sie nicht behaupten: Sie müssen ohnehin warten. Dass ich sie gefährde, schon sowieso nicht: Der einzige, der ein Risiko eingeht, bin ich.
Es muss mit der deutschen Angst vor Chaos und der legalistischen Tradition zu tun haben, denke ich, als ich an einer Kreuzung wirklich nicht durchkomme. Für Vorfahrt gibt es feste Regeln, auch wenn ein bisschen mehr Abstimmung den Ablauf beschleunigen würde. Aber die Berliner Lage bessert sich schon: So entspannt wie in Amsterdam – wo man sich mit einem Blick verständigt, wer wem den Vortritt gönnt – ist man zwar nicht, aber im Lauf der vergangenen Jahrzehnte ist der Verkehr wesentlich lockerer geworden.
Als ich hier 1990 zum ersten Mal auf zwei Rädern unterwegs war, war die Situation eher wie sie heutzutage noch in Los Angeles und St. Petersburg ist, wo man sich als Fahrradfahrer im Straßenverkehr vorkommt wie eine Antilope zwischen den Löwen. Inzwischen haben die Autofahrer die Hatz auf die Radfahrer weitgehend eingestellt. Wobei in Berlin gerade einmal halb so viele Radfahrer unterwegs sind, wie in Amsterdam – zumindest in Relation zur Anzahl der Bewohner. Trotzdem haben sie sich in vielen Stadtbezirken schon weitgehend durchgesetzt. Masse bildet Kraft.
Kampffahrer gehen zunehmend in der Masse unter
Geändert hat sich auch der Typ des Berliner Fahrradfahrers. Natürlich, es gibt sie noch, die Kampfradler, die das Fahrradfahren als politischen Akt verstehen, und die, um ihre moralische Überlegenheit zu demonstrieren, die Autofahrer am liebsten anbrüllen, aber es werden immer weniger. Oder sie verschwinden in der Masse von zerbrechlichen Damen, verspielten Jugendlichen, verträumten Touristen und von gelangweilten Beamten auf ihrem Weg zum Büro.
Was, im Vergleich zu Amsterdam, immer noch weitgehend fehlt, sind Fahrradfahrer mit – wie das auf Deutsch politisch korrekt so schön heißt – Migrationshintergrund. Aber das kommt, da bin ich mir sicher. Auch in den Niederlanden hat es lange gedauert bevor die ehemaligen Gastarbeiter und ihre Kinder sich über den Ruch der Armut, den Fahrräder lange Zeit ausstrahlten, hinwegsetzen konnten. Mittlerweile haben sie sich so weit angepasst, dass sie genau so ärmlich aussehende Klapperräder fahren, wie die Einheimischen.
Wenn diese Entwicklung sich in Deutschland parallel durchsetzen würde, würden die deutsche Migranten in absehbarer Zeit auf anständigen, gut gewarteten und leistungsfähigen Fahrrädern herumfahren. Der Deutsche, ohne oder mit Migrationshintergrund, nimmt sein Material nun einmal ernst.
Rüttelstrecken auf zermarterter Fahrbahn
Aber zurück zur Straße: Welchen Einblick gewinnt der Radler in der Stadt? Bekannt ist die Theorie, die sagt, dass man eine Stadt nur zu Fuß erleben kann. Aber dazu ist Berlin einfach zu groß, man braucht schon ein paar Stunden für das Durchqueren eines einzigen Bezirkes. Die richtige Geschwindigkeit für die Großstadt bringt das Fahrrad. Gerade zwanzig Minuten brauche ich vom Wedding zum Pariser Platz.
Für den fließenden Übergang zwischen meinem volkstümlichen Wohnviertel und meiner touristenumfluteten Arbeitsstelle im Zentrum stehen mir zwei Routen zur Verfügung. Der grüne Weg führt am Ufer des Spandauer Schifffahrtskanals entlang, über einen Friedhof und ein Krankenhausgelände und dann direkt ins Zentrum. Schön und ruhig, aber trotz des erhaltenen DDR-Wachtturms fehlt mir das Berliner Flair.
Meine Lieblingsstrecke ist der Asphaltboulevard, der sich schnurgerade ins Zentrum bohrt: Hier zeigt Berlin seine Großzügigkeit erst richtig. Insbesondere der vierspurige Anfang ermuntert zum Wettrennen. Weil die Autos von Ampeln gebremst werden, hat der Fahrradfahrer eine faire Chance. Je näher man dem Zentrum kommt, desto schmaler werden die Straßen. Touristen stehen im Weg: Es ist Schluss mit der Großstadtrennerei.
Eine Eigenschaft, die beide Varianten gemeinsam haben, ist der Abwechslungsreichtum. Mal ist mit einem durchgezogenen weißen Strich eine deutliche Spur von der Straße abgegrenzt, die dann aber urplötzlich aufhört. Einen halben Kilometer weiter gibt es dann auf einmal einen klinkergepflasterten Fahrradweg, der über den Bürgersteig führt und im Zickzackkurs jede Bushaltestelle und jeden Mülleimer umgeht. Vor allem aber liegt sie versteckt hinter parkenden Autos, sodass rechtsabbiegende Autofahrer die Fahrräder leicht übersehen, selbst wenn sie aufpassen. Dann folgt wieder ein Abschnitt auf der vom Frostwetter zermarterten Fahrbahn, gefolgt von einer breiten Busspur, wo Fahrradfahrer als Mitbenutzer geduldet sind, und so weiter. Und dann gibt es noch die Schikanen in Form von Baustellen, Straßenbahngleisen und Asphaltbuckeln.
Natürlich kann man da meckern und schimpfen und sich fragen warum die Stadt die Fahrradwege nicht konsequenter ausbaut. Aber hey – man kommt doch nicht nach Berlin, um bequem Fahrrad zu fahren. Wem das wichtig ist, der geht besser gleich nach Münster, das als Deutschlands fahrradfreundlichste Stadt gilt.
Gehe einfach in die Stadt und schau, wo du durchkommst. Provisorische Querverbindungen und komische Übergänge gehören zur Großstadt, nur auf dem Zeichentisch ist die Welt fertig. Und tot. Berlin aber ist quicklebendig.